Mauerquark: Was Kinder in einer Druckerei anstellen können

Veröffentlicht in Fragen und Versuche, Zeitschrift der Freinet Kooperative

03/2009 Heft 127/33. Jahrgang

 

„Wenn ein Kind lesen gelernt hat und gerne liest, entdeckt und erobert es eine zweite Welt, das Reich der Buchstaben. Das Land des Lesens ist ein geheimnisvoller, unendlicher Erdteil. Aus Druckerschwärze entstehen Dinge, Menschen, Geister und Götter, die man sonst nicht sehen könnte. Wer noch nicht lesen kann, sieht nur, was greifbar vor seiner Nase liegt oder steht: den Vater, die Türklingel, den Laternenanzünder, das Fahrrad, den Blumenstrauß und, vom Fenster aus, vielleicht den Kirchturm. Wer lesen kann, sitzt über einem Buch und erblickt mit einem Male den Kilimandscharo oder Karl den Großen oder Huckleberry Finn im Gebüsch oder Zeus als Stier, und auf seinem Rücken reitet die schöne Europa. Wer lesen kann, hat ein zweites paar Augen, und er muss nur aufpassen, dass er sich dabei das erste Paar nicht verdirbt.“ Erich Kästner1 In einer Druckerei können die Kinder selbst Dinge, Menschen, Geister und auch Götter aus der Druckerschwärze entstehen lassen, und gebrauchen doch ständig ihre beiden Paar Augen. Um dies zu ermöglichen haben wir eine Schuldruckerei in der Freien Schule am Mauerpark in Berlin. Im folgenden möchte ich beschreiben, welche Voraussetzungen wir haben und auf welche Ideen und zu welchen Ergebnissen Kinder kommen, wenn ihnen eine solche Druckerei ohne Vorgaben zur Verfügung steht. Die freie Schule am Mauerpark ist eine Alternativschule mit 60 Kindern2 im Berliner Stadtteil Wedding. Ständig entwickelt sich die Schule in Auseinandersetzung mit den Kindern und deren Wünschen und Bedürfnissen weiter. Es gibt tausend Möglichkeiten, zahlreiche Absprachen und einige Verbindlichkeiten im Alltag.3 Die Ausgangslage Nach einem Besuch in einer historischen Druckerei äußerten Kinder den Wunsch auch in der Schule drucken zu wollen. Unsere Schulkoordinatorin konnte eine alte Druckerei auftreiben und wir waren in der glücklichen Lage für wenig Geld viel Material zu bekommen. Die Schuldruckerei teilt sich mit der Experimentierwerkstatt einen Raum, hat ca. 15 Schriften zur Auswahl und kann bis zu Din A2 drucken. Alles funktioniert manuell und nur wenige Materialien sind neu. An sechs Arbeitsplätzen können Kinder setzen, an einem Linolschnitt anfertigen und an einem Bücher binden bzw. als Leimbindung herstellen. Getreu unserem pädagogischen Selbstverständnis bieten wir in der Druckerei nichts vorgegebenes an.4 Die Kinder können nach Lust und Laune ausprobieren und einfach schauen, was dabei herauskommt. Oder sie haben konkrete Ideen, machen einen Entwurf und bekommen die nötige Unterstützung bei der Umsetzung. Soweit die Ausgangslage in Kürze. Das Drucken Die ersten Druckideen waren Spielereien mit dem eigenen Namen und Visitenkarten. Besonders die jüngeren Kinder wollten vor allem das Material und die Möglichkeiten ausprobieren. Visitenkarten entstanden in den verschiedensten Formen (manche klassisch im Kleinformat, andere in A4) und vor allem die Druckmotive (Pferde, Autos, Blumen...) wurden verwendet. Ein Kind startete den Versuch, sich mit dem Drucken von Visitenkarten, Einladungskarten etc. selbstständig zu machen, was aber aufgrund der dürftigen Auftragslage nicht von Erfolg gekrönt war. Spaß hat es trotzdem gemacht. In einer zweiten ‚Phase’ wurde viel mit Safttütendruck und verschiedenen Druckfarben experimentiert. Ein häufiges Motiv waren Spielkarten mit entsprechenden Kampf- und Verteidigungspunkten. Beim Safttütendruck kommen die Kinder schnell zu einem Druckergebnis, was an manchen Tagen für manche Kinder ziemlich wichtig zu sein scheint. Parallel hierzu begannen zwei Kinder jeweils ein Buch zu setzen. Zuerst kamen sie mit vorgeschriebenen Texten in die Druckerei und setzten diese, später haben sie die Geschichten während des Setzens weiterentwickelt. In der Vorstellung der Kinder besteht ein Buch aus vielen bedruckten Seiten, so dass die Geschichten auch sehr lang werden sollen. Nach etwa einem Jahr sind nun vier Seiten fertig, das Projekt wird weiterverfolgt. Spannend finde ich daran, dass sowohl Kinder die den Wunsch nach einem schnellen Ergebnis in sich tragen, als auch Kinder mit einer beachtlichen Ausdauer in der Druckerei etwas für sich finden. Manche Kinder kommen wegen des Linolarbeitsplatzes in die Druckerei. In der nächsten Phase kam der Linolarbeitsplatz hinzu. An einem extra Schreibtisch kann hier Linolschnitt gefertigt werden, was aus Sicherheitsgründen nicht zwischen all den Setzschiffchen stattfinden soll. Dieser Arbeitsplatz wird gerne von Kinder genutzt, die nach Freiarbeit und Deutschverabredung keine große Lust mehr zum Texten haben, sondern mit großer Leidenschaft Bilder aus dem Linol herausarbeiten. Seit dem es in der Druckerei möglich ist einfache Taschenbücher mit Leimbindung selbst herzustellen, werden mit Linoldruck oft die Vorderseite des Umschlages gedruckt. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir mit echter Buchdruckfarbe gearbeitet. Der Nachteil war, dass die Farbe bis zu 24 Stunden zum Trocknen brauchte und die Flecken nicht mehr aus der Kleidung rausgingen. Wir haben dann auf Linoldruckfarbe umgestellt, die wasserlöslich ist, innerhalb von 2 Stunden trocknet, auswaschbar ist und leichter besorgt werden kann. Durch das Hinzufügen des Buchbindebereich hat sich das Arbeitsfeld noch einmal erweitert. Kinder binden sich ihre eigenen Schreibhefte selbst nach ihren Vorstellungen, gestalten die Umschläge und haben oft schon Ideen, zu was sie diese Hefte nutzen wollen. Dabei werden nur (wie beim Drucken) die einfachsten und billigsten Materialien verwendet. Zum einen hätten wir nicht das Geld um es anders zu handhaben, zum anderen gehört so das Anrühren des Bindeleimes aus Tapetenkleister und Holzleim (1:1) schon ‚automatisch’ mit dazu. Wie kommen die Kinder zu neuen Ideen, wenn sie diese nicht einfach ‚von selbst’ mitbringen? Ein Junge hat seine Geburtstagseinladungen selbst gedruckt. Bei der Anrede ließ er Platz, damit er dann handschriftlich die Namen einfügen konnte. Woher er diese Idee hatte, kann ich nicht sagen. Andere Kinder haben seine Idee nachgeahmt/übernommen und wiederum Einladungen und Weihnachtsgrußkarten gedruckt. Und so geht es immer weiter. Dadurch, dass die Druckerei nicht mit festgelegten Themen oder ganz bestimmten Techniken besetzt ist, bleibt für die Kinder der Raum zum Experimentieren erhalten. Und für uns Erwachsene auch. Gerade für Kinder die sich mit dem Anfangsschreiben abmühen bietet die Druckerei einen guten Ort, um Buchstabe für Buchstabe (also Letter für Letter) die Wörter zusammenzusetzen. Dabei können auch vermeintlich ‚schreibschwache’ Kinder nach meiner Beobachtung gut auseinanderhalten, dass beim Setzen die Buchstaben auf dem Kopf, spiegelverkehrt und die Zeilen von unten nach oben gesetzt werden. Selten nehmen sie einen Spiegel, um ihre Texte zu kontrollieren. Und dann gibt es da diese zauberhaften Momente, in denen versehentlich aus dem Mauerpark ein Mauerquark wird. Zuerst wird gestaunt, dann gelacht und schließlich fangen die Kinder an sich weiteren ‚Quark’ zu überlegen, erkennen die Spiegelsymmetrie einzelner Buchstaben und spielen damit. Manchmal kommen am Ende Eselsbrücken heraus, die den Kindern helfen, nicht nur beim Drucken ein q und ein p zu unterscheiden. Papier und Farben Wir haben in den umliegenden Druckereien und Kopiergeschäften um Papierspenden gebeten und sind so ohne weitere Kosten an verschiedene Formate, Farben und Stärken von Papier gekommen. Druckfarben haben wir in schwarz, gelb, blau und rot. Allein die Kombination der Farben und diverser Mischungen daraus mit den verschiedenen Papieren machen eine große bandbreite von Druckerzeugnissen möglich. So kann eine blaue Geschichte mit dunkelblauer Farbe auf hellblauen Papier gedruckt werden. Schriften In der Druckerei stehen verschiedene Schriften zur Auswahl. Die meisten davon haben nur wenige Großbuchstaben, so dass beim Setzen notwendiger Weise auch mit den kleinen Buchstaben gearbeitet werden muss. Da uns eine große Plakatschrift fehlt schneiden wir derzeit Buchstaben mit einer Höhe von 10cm aus Linol aus. Diese werden dann auf Holzstücke geklebt, so dass sie wie die Bleilettern genutzt werden können. Mit dieser Technik wäre es möglich eigene Schrifttypen oder auch eigene Buchstaben zu fertigen. Das selber machen von Buchstaben bedeutet, noch einen Schritt vor dem Setzen kennen zu lernen. Erwachsene Welche Aufgabe hat denn dann der Erwachsene, wenn die Kinder alles selbst tun können sollen? Diese Aufgaben können sein: im gemeinsamen Gespräch das Vorhaben des Kindes genau zu verstehen bei der Materialwahl behilflich sein (welche Schrift z.Bsp.) auf Gefahrenquellen hinweisen dokumentieren Und das Wichtigste: selber in der Druckerei tätig sein. Jede neue Technik will ausprobiert werden und wenn die Kinder sehen, was ein anderes Kind oder ein Erwachsener da macht, dann kann daraus schnell Interesse entstehen, es selbst zu tun. Das ‚Einsammeln von Kindern’ mit der Idee ihnen zu zeigen, wie dies oder jenes gehen kann, funktioniert an unserer Schule nicht, und das finde ich gut so. Ordnung An Besuchertagen/ Tagen der offenen Tür bemerke ich immer wieder, dass es für viele Eltern ein Thema ist, dass die Kinder in unserer Schule für die Ordnung mitverantwortlich sind und wir nicht für sie ihre Tische aufräumen. Manche Tische dienen nur als Ablage, denn das Kind arbeitet lieber am Gruppentisch, und so stapeln sich auf den Tischen dann die vielen mitgebrachten Utensilien. Nach ein paar Jahren Freie Schule weiß ich um die Bedürfnisse und Gedanken, die sich Kinder um ihre Plätze machen. Sie geben den Räumen ihre eigene Struktur und verhandeln diese dann mit den anderen Kindern und den LehrerInnen. In der Druckerei wäre das undenkbar. Durch die Struktur der Setzkästen und die Aufteilung in Arbeitsbereiche (setzen, einfärben, drucken, trocknen, schneiden, binden...) ergibt sich eine innere Struktur, wie sie jeder traditionellen Werkstatt inne ist. Und diese Ordnung muss nicht nur akzeptiert, sondern auch beibehalten werden. Für mich war es ein Stück weit ein Experiment, ob eine solch ‚geordnete’ Werkstatt in unserer doch manchmal etwas ‚chaotischen’ Schule möglich sei. Und sie ist möglich. Bisher hat noch kein Kind diese Ordnung in Frage gestellt oder absichtlich durcheinander gebracht, obwohl es dafür zahlreiche Gelegenheiten gäbe (der Raum ist durch eine Nottür immer zugänglich). Diese Erfahrung bringt mich noch auf einen weiteren Gedanken: es gibt immer wieder die Befürchtung, dass Kinder die ohne Noten und Zwang gelernt haben anschließend im staatlichen Schulsystem nicht klar kämen. Wenn die Erfahrungen mit der ‚inneren Ordnung’ der Druckerei übertragbar sind, dann kann man wohl sagen, dass sie mit jeder Ordnung deren Sinn sich verstehen lässt (und die nicht nur sich selbst oder einer vermeintlichen der Macht dient) genauso gut klar kommen wie Kinder, die herkömmliche Schulformen besucht haben.5 Beim Schreiben dieses Artikels fiel mir auf, dass die Frage, warum man sich mit dem Setzen und Drucken eines Textes eine solche Mühe macht, wo es doch am PC so viel schneller und sauberer ginge, mir noch nie gestellt wurde.6 Es wäre ja ein Programm denkbar, dessen Oberfläche einem Setzkasten und einem Setzschiffchen nachempfunden wäre. Was bestimmt fehlen würde wäre der sinnlich- kreative Prozess mit dem Material an sich, die Möglichkeiten eigene Techniken zu probieren, das Schnattern und Lachen mit den anderen und vieles mehr. Was aber vielleicht das Wichtigste ist: wenn ich es selbsttätig7 tue, dann kann ich erfahren und verstehen, was und wie es geschieht. Ich wähle nicht nur aus, ich gestalte selbst mit. Schließen möchte ich mit dem Gedanken Erich Kästners: „Aus Druckerschwärze entstehen Dinge, Menschen, Geister und Götter, die man sonst nicht sehen könnte“ und möchte festhalten, dass sich bisher weder ein Kind noch ein Elternteil beschwert hat, dass die Hände deutliche Spuren von Druckerschwärze aufweisen würden. Drachen und Zwerge, die aus der Druckerschwärze empor gestiegen sind, sollen aber schon gesehen worden sein.