Schule als Agent des Systems?

'Schule als Agent des Systems'

-Podiumsdiskussion-

08.06.2012 Humbolt Universität Berlin

 

 

Ein System ist ein Ding das läuft“ (Alma, 9Jahre)

 

These: Schule hat das vorrangige Ziel Schülerinnen und Schüler in die Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft zu pressen. Schule hat nicht das Ziel eine freie Entwicklung zu fördern, sondern Menschen dem Systemdruck zu unterwerfen.

 

Ein Agent ist ein bezahlter, im Verborgenen arbeitender Mensch, der einer anderen Macht dient. Einer der spioniert. So ungefähr beschreiben das die Kinder in der Lerngruppe, in der ich arbeite. Sie haben sich den Raum und mich als Lehrer selbst ausgesucht und sind der Meinung, dass ich wohl kein Agent sei.

Zu der Frage, was ein System sei, fiel ihnen ein, dass Mathe ein System ist oder ein Art Maschine so was ähnliches wie ein System sein könnte. Und: „Ein System ist ein Ding das läuft!“

Frei sein, auch als Kind und in der Schule, bedeutet für die Kinder die ich in unserer Freien Alternativschule befragt habe, dass sie sich frei entscheiden können. Auf Nachfrage erklärten sie, dass sie einfach auch 'nein' sagen dürfen und nicht immer mitmachen müssen. So beschreiben sie Freiheit.

 

Ob 'Schule an sich' die Aufgabe hat in 'das System zu pressen' und ob Alternativschulen auch Teil dieser Funktion sind oder Teil einer Gegenbewegung mit den Zielen von Selbstbestimmung und freier Entfaltung, das lässt sich nicht so einfach beantworten.

 

Ich möchte auch nicht schlecht über 'die öffentliche' Schule reden oder alle 'Freien Schulen' pauschal feiern. In den verschiedenen Schulformen setzten sich fortschrittliche Lehrerinnen und Lehrer für eine Demokratisierung von Schule und Unterricht ein. Ihnen gebührt mein Respekt, nicht einer bestimmten Schulform. Das dieser Einsatz nötig ist zeigt aber, dass an der These dieser Veranstaltung etwas dran sein muss.

 

WENN Schule nicht in das 'System' hineinpressen sollte, dann wäre sie dem Ziel verschrieben, die 'freie Entwicklung eines jeden Individuums' zu fördern. Dann hätte meine zwölfjährige Tochter, die mittlerweile eine öffentliche Schule besucht, keinen Stundenplan mit den Fächern Deutsch, Mathe, Englisch, Französisch als 'Hauptfächer'. Denn: was 'wichtig' und förderungswürdig ist, dass entscheiden derzeit nicht die SchülerInnen gemeinsam mit ihren LehrerInnen, das ist weitgehend vorgegeben.

 

Würde Schule der 'freien Entwicklung' gewidmet sein, dann gäbe es weder Noten noch eine andere Art der Vergleichsbewertung durch die LehrerInnen. Es gäbe keine einheitlichen Abschlüsse und keinen 'Marktwert' der erreichten Bildung. An welchem einheitlichen Maßstab sollte das auch messbar sein?

 

Wäre Schule der freien Entwicklung gewidmet, dann wäre sie ein offener Raum, eine äußerst bewegliche Institution und zu aller erst ein Recht und keine Pflicht. Folgerichtig müsste es dann auch „Recht auf Bildung“ und nicht „Schulpflicht“ heißen.

Dann müsste Schule der Ort sein, an dem die Fragen der Kinder und Jugendlichen dominieren. Der Rahmenlehrplan wäre dann eine anregende Ideenkartei für die Kinder und Jugendlichen, keine Vorgabe für die Lehrerinnen und Lehrer.

Soweit zu einer anderen Schule, die möglich wäre, wenn Schule der freien Entfaltung verschrieben wäre.

 

In unserer kleinen Alternativschule bewältigen wir ständig den Spagat der beiden Pole, die in der These dieser Diskussion formuliert sind. Nach unserer Konzeption ermöglichen wir den Kindern und Jugendlichen alles, damit sie sich frei entfalten können. Wir verzichten auf lehrerzentrierten Unterricht, Noten, Leistungsdruck und Vergleichsbewertungen. Auf der anderen Seite üben die Folgeschulen und ein Teil der Eltern Druck auf uns aus. Wir sind verpflichtet an das öffentliche Schulsystem anschlussfähig zu sein, d.h. wir geben unseren AbgängerInnen auf Antrag ein Notenzeugnis. Die Eltern sorgen sich zum Teil, wenn ihre Kinder großartig Katapulte, Raketen, Sandburgen oder Murmelbahnen konstruieren, statt sich mit den Grammatikregeln zu beschäftigen. Der Rahmenlehrplan und das Schulamt begrenzen uns, damit wir nicht 'zu frei' werden.

Wir spüren also den Druck, der in der Anfangsthese dieser Debatte formuliert wurde, auch in unserer pädagogischen Nische.

 

ABER und da möchte ich die Eingangsthese ergänzen, es ist der 'Agent' in uns Erwachsenen selbst. Wir selbst haben Werte und Normen der Gesellschaft oder 'des Systems' verinnerlicht. Wir selbst geben sie weiter. Viel zu selten hinterfragen wir Regeln und scheinbare Selbstverständlichkeiten. Das mag zum einen notwendiges Bedürfnis sein, um eine gesellschaftliche Stabilität herzustellen. Es birgt aber auch die Gefahr in sich, dass Schule Ort der Anpassung und nicht der Raum für die Innovationen der zukünftigen Gesellschaftsformen ist.

 

Sichtbar wird die anpassende Funktion von Schule, die Einführung und Einfügung in 'das System', vor allem an den Kindern und Jugendlichen, die sich nicht so leicht leiten, formen oder gar pressen lassen. Sie gelten immer wieder als „defizitär“. Therapien und Medikamente werden mobilisiert um diese Kinder 'schulfähig' zu machen. Auch hier wird sichtbar, dass die Schule an sich dem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zu arbeitet. Die Alternative wäre: konsequent von den Kindern aus zu denken, sich mit ihnen zu entfalten und Kategorien wie 'unbeschulbar', 'undiszipliniert' oder 'störend' über Bord zu werfen. Möglicherweise würde dann an die Stelle der Institution Schule etwas anderes rücken. Ob Lehrerinnen und Lehrer oder gar die Schulbehörden bereit sind einen solchen Weg zu gehen wage ich zu bezweifeln, denn wer sägt schon an dem Ast, auf dem er sitzt.

 

Abschließend möchte ich sagen, dass der Agent des Systems in uns selber sitzt und wir uns täglich neu entscheiden, ob wir uns mit den gegebenen Strukturen und Umgangsformen arrangieren oder ob wir sie hinterfragen.

In Bezug auf die Institution Schule stellt sich die 'Gretchenfrage', ob Schule neben der Familie der Ort der anpassenden Sozialisation ist oder ein Raum permanenter, innovativer Zukunftswerkstatt mit offenem Ausgang.

Der 'Druck', der sich hinter dem Wort pressen versteckt wird oft dort besonders sichtbar und spürbar, wo Kinder und Jugendliche sich nicht anpassen. Wer sich nicht anpasst, der spürt seine Fesseln.

 

Wenn es stimmt, was die neunjährige Alma gesagt hat, dass ein System ein Ding ist das läuft, dann möchte ich mit der Ermunterung Erich Frieds schließen:

 

Seid Sand und nicht Öl im Getriebe der Zeit!“

 

Danke für ihre Aufmerksamkeit