Gründzüge emanzipatorisch- freiheitlichen Denkens

im Spiegelbild von Pädagogik

Vorlesung Athen 06/2015 – autonome Universität1


Libertäres Denken (in Abgrenzung zu staatlichem Denken) setzt auf die Autonomiefähigkeit und die Sozialität des Menschen. Die Autonomiefähigkeit des Menschen steht in der Tradition der (hellenischen später 'allgemeinen') Aufklärung.


Vorsokratische Epoche

Vorsokratisches Denken (inkl. Sokrates) ist ein autonomes Philosophieren, ein logisches Argumentieren und aufklärerisch. Der Mensch (Mann?) ist fähig, logoshaft die Welt zu begreifen und zu verstehen. Es durfte und wurde auch über 'die Götter' nachgedacht. Es entstand ein erster Atheismus (Demokrit: Götter im leeren Raum zwischen den Planeten, rein beobachtende Rolle). Naturwissenschaftliche Blütezeit: Mathematik/Geometrie, Astronomie, Chemie, Physik usw. als Unterkategorien von Philosophie. Atommodell (Demokrit), verschiedene Stofflehren, Mechanik (Theater, Kriegsgeräte...). Stadtstaaten hatten unterschiedliche politische-ökonomische Philosophien (Sparta-Athen). Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß (früher Konstruktivismus). Suche nach Wahrheit statt Rhetorik. Seelenbegriff bei Sokrates umfasst lebendiges (Menschen, Tiere, Pflanzen), bei Platon 'nur noch' den Mann.

Platon: konservatives Staatsverständnis, an das später das Kirchenstaatsmodell anknüpfen konnte. Höhlengleichnis beschreibt mögliche Emanzipation und das gefährliche Unverständnis der einfachen Masse der Menschen. Das anschließende Liniengleichnis strukturiert diese 'Emanzipation' in vier Ebenen der persönlichen Entwicklung. Unterste Schicht: Grundbedürfnisse befriedigen, egoistisch. Zweite Schicht: Identifikation mit dem Staat, bereit zu Militärdienst. Dritte Schicht: kulturell gebildet, des Lesens und Schreibens kundig, selbstständig arbeitend, können Staat verwalten. Die oberste Schicht sind die Philosophen, die über allem stehen und absichtslos philosophieren. Unterste Ebene: Volksmusik. Zweite Ebene: Marschmusik. Dritte Ebene: komponierte, klassische Stücke. Oberste Ebene: Harmonisches Interpretieren.

Aristoteles: Forschend Denken. Götter verliehen Menschen Verstand, um über sich hinaus zu wachsen. Wissenschaftliches Denken grundsätzlich aristotelisch. Durch 'Zwischen den Zeilen lesen', überstanden seine Ideen die Jahrhunderte des pro-platonischen (und antiaristotelischen) Mittelalters, bis sie wieder in eine breitere Öffentlichkeit gelangten.


Pädagogische Polaritäten

Während der Magister im Gymnasium in Vortragsform (in der Regel aus dem Homer) vorlas, war der Pädagoge (ein gebildeter Haussklave) dem Knaben (nicht nur auf dem Schulweg) zur Seite gestellt. Er hatte eher die Funktion eines Hauslehrers und war für die Fragen zuständig, die nach dem Besuch des Gymnasiums entstanden. Abgesehen davon, dass schon die rechtliche und finanzielle Stellung der damaligen Lehrer (Magister) und Pädagogen parallelen zum heutigen Verhältnis aufweisen, so war der Pädagoge in einer wörtlichen Übersetzung der 'Knabenführer' und trug Verantwortung für dessen persönliche Entwicklung. Hatte der Pädagoge Glück, wurde er aus der Sklavenschaft entlassen, sobald sein Zögling einen eigenen Haushalt hatte. Übernahm er dann für ein Gehalt die Begleitung der Söhne seines ehemaligen Herren, und wurde so zu einem Hauslehrer.


Während die Didaktik die Kunst des Lehrens umfasst (zum Beispiel die Kunst, etwas vorzutragen), beschäftigt sich die Mathetik mit der Kunst des Lernens. Der Begriff mathenai findet sich durchaus schon in vorsokratischen Texten. 1973 bezieht sich Hartmut von Hentig auf die Mathetik, als er vor Gericht als Gutachter die Freie Schule Frankfurt bewerten/beschreiben soll. Im Gegensatz zur Didaktik, die das beherrschende Prinzip in den Schulen sei, werde in der Freien Schule Frankfurt mathetisch gearbeitet, das heißt: Lernen selbst in all seinen Variationen ist die Methodik der Schule.


Mittelalter

Katholische Kirche monopolisierte Wissen, Bibeltexte als einziger Forschungsgegenstand, Lesen als Privileg, arabische Welt als Gegenmodell (medizinische Universitäten usw.).

Nach den Kreuzzügen, nach den Bauernkriegen (erste 'Befreiungstheologie' durch Münzer: Freie Wahl der Geistlichen), entsteht unabhängigeres Bürgertum (Genua, Venedig,...- Handelsstädte). Dort: Emanzipation von Kirchenlehre, Forschung beginnt (Astronomie, Geografie). Kopernikus, Galilei usw. werden durch die Kirche verfolgt. 1490: Kolumbus segelt zu den Indianern (Beweis: Erde ist rund.) Beginn der Kolonialzeit. Reformation bringt Fortschritte: Bibel in Muttersprachen, Handel kann sich entfalten (Calvin)


Johann Amos Comenius gründet die erste Volksschule. Diese ist vierjährig, koedukativ, muttersprachlich. Nach diesem Modell sind fast alle Grundschulen in Europa (und durch den Kolonialismus auch darüber hinaus) mehr oder weniger konzipiert.

Comenius verfasst sein großes Werk 'Magna Didactica', in der er die Grundlagen für unsere heutige europäische Didaktik legt. Er erkennt, dass er mit der Didaktik nur einen bestimmten Ausschnitt von Unterricht erfassen kann, und dass das eine unzulängliche Reduzierung ist. Er verfasst im Anschluss die 'Ars Discendi' – die Kunst des Lernens. Ähnlich wie in der vorplatonischen Epoche wird deutlich, dass Lehren und Lernen zwei durchaus unterschiedliche Prozesse sind, und dass Schule nicht nur der Didaktik ihren Raum überlassen kann.


Frühaufklärung

Michel de Montaigne (1533-1592): Die Essays. Anknüpfung an vorsokratische Traditionen, Essays statt Belehrung, freiheitliches Denken erlaubt Emanzipation (von kath. Kirche).

Rousseau (1712-1778) verbindet gesellschaftliche Utopie (contract sozial) mit pädagogischem Entwurf (Emil). Bereitet so politisch ein Stück weit (franz./europäische) Revolution vor. Gemäßigte Jakobiner können als 'Rousseauisten' bezeichnet werden. Mainzer Republik als konkreter Ausdruck emanzipatorisch-utopischen Denkens ('Demokratie', Menschenrechte, utopischer Sozialismus) im deutschsprachigen Raum.


Rousseau: Kindheit und Jugend als anerkannte Lebensphasen (zum Bsp. Bei Kleidung), naturgemäße Erziehung (Babys dürfen krabbeln), umfassende Bildung (zur Selbsttätigkeit), Jungen- und Mädchenrolle werden festgeschrieben (was zu einer geschlechtsspezifischen Pädagogik führt).


Aufklärung

Immanuel Kant (1724-1804): Ende 18. Jahrhundert Vorlesung zur Vernunft. Philosophie und Pädagogik als Königsdisziplinen der Aufklärung. Notwendige Bedingung für emanzipatorische Entwicklung im Bildungsbereich.


1804 erste Reformschule (für Mädchen mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt) in der Schweiz.


[Nach Napoleon: Restauration gewinnt in Europa 'Oberhand', Industrialisierung, preußischer Militarismus – Schulpflicht, Zentralstaaten organisieren Schulsysteme (unabhängig von Kirche)]

Gesellschaftskritik durch Marx/Engels/Bakunin...


[Das Proletariat steht dem Bürgertum gegenüber. Bürgerliche Pädagogik (Elitenförderung) gegen Einheitsschule (Breitenbildung).

Ideologisch bilden sich die Lager Sozialismus/Anarchismus – Kapitalismus/Imperialismus

Politisch kämpft man um Demokratie, Parlamentarismus oder Monarchie]


Libertäre/Sozialistische Pädagogik

Henri de Saint-Simon (1760-1825) wird vor allem durch seine Kritik an bestehenden (katholischen) Schulen in Frankreich verständlich. Er wirft diesen Schulen vor, die sittliche Erziehung grundsätzlich zu vernachlässigen, eine mangelnde Verbindung von Theorie und Praxis sowie eine klassengetrennte Erziehung der Kinder.2 Im Umkehrschluss kann man ihm unterstellen, dass er eine sittliche Erziehung für alle Kinder (klassenunabhängig) in Verbindung mit einer Praxis anstrebte, von der man ggf. auf die Theorie schließen könnte.

Der Franzose Charles Fourier (1772-1837) ein Modell der 'harmonischen Erziehung'. In seiner Konzeption werden die Kinder nach der Geburt der Gemeinschaftserziehung übergeben. Nach drei Jahren werden die Kinder, je nach ihrer Leidenschaft ('passiones') eingeteilt. Fourier „[...] achtet […] weitestgehend die Individualität des Kindes. Das Kind kann und soll sich frei entfalten [...]“3 Er fordert eine praxisnahe Erziehung, die Neugierde und der Nachahmungstrieb der Kinder werden in seinem Konzept als Lernmotivationen benannt.

Robert Owen (1771-1858) wurde u.a. dadurch bekannt, dass er in England Kindergärten einführte. Er forderte eine kostenfreie, praktische und koedukative Erziehung für die Grundschulen. „Die Erziehung erfolgt […] gemeinschaftlich, klassenübergreifend und gemeinsam für Mädchen und Jungen.“4 Auf jede Form von Strafen verzichtete er, so dass man von einem repressionsfreien Erziehungsmodell sprechen kann. Es dürfte dem historischen Kontext seiner Zeit geschuldet sein, dass er gleichzeitig auf eine militärische Erziehung setzt, wodurch sichtbar wird, dass er keinen individuellen Erziehungsansatz hat. Owen unterscheidet sich von den beschriebenen Konzepten Saint-Simons und Fouriers durch eine Anthropologie, die den Menschen keine gegebene Individualität zuspricht. „Kinder sind ausnahmslos passive und wunderbar zusammengesetzte Wesen, denen durch eine aufmerksame, sich auf richtige Sachkenntnis gründende Erziehung der beliebige menschliche Charakter ausgeprägt werden kann.“5

Leo Tolstoi (1828-1910): utopischer Christ/Anarchist. Erste Freie Schule (Teilnahme am Unterricht freiwillig, Bauernkinder, muttersprachlich, koedukativ)

Paul Robin (1837-1912) fordert für jeden Menschen – unabhängig von seiner Herkunft – das Recht „[...] dass er so vollständig wie möglich alle seine körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten entwickle.“6 Robin ist bekennender Anarchist. Sowohl mit dem Anarchisten Bakunin als auch mit dem Kommunisten Karl Marx hatte er Kontakt. 1880 übernimmt Robin die Leitung eines Waisenhauses nördlich von Paris. 1894 wird er zur Aufgabe dieses Postens gezwungen (sowohl die Kirche als auch die Schuladministration waren gegen seine Arbeit) und wird Professor für Pädagogik an der neuen Universität in Brüssel.7 Robins Pädagogik beinhaltet eine frühe Form des polytechnischen Unterrichts, innovative Formen der Lehrerfortbildung

Francesco Ferrer (1859-1909): Anarchist, Atheist (naturwissenschaftlich) gründet 'Moderne Schule' nach der rationalen Methode (in Abgrenzung zu katholischen Schulen). Selbstverwaltete Schule, kein Religionsunterricht, koedukativ, demokratisch, sonntags Elternschule

Celestine Freinet (1896-1966): Sozialistisch geprägte Pädagogik in den Klassen der regulären Schulen.


Gemeinsamkeit: das Richtige im Falschen versuchend


1918: Novemberrevolution

Versuchsschulen in Hamburg

- Selbstbestimmtes Lernen

- Schulgemeinschaft als Lernort für soziale Kompetenzen

- Schule als Ort gelebter, sozialistischer/basisdemokratischer Utopie

An die Eltern, die ihr Kind an unsere Schule geben wollen’ schreiben die Lehrer der Hamburger Torschule (1922): „Du kennst aus deiner eigenen Jugend die Schule als die Stätte, an der das Kind planmäßig auf den Beruf, auf ‚das Leben’ vorbereitet wird. Wir aber lehnen es ab, uns irgendwie von den Anforderungen des Berufs, des Wirtschaftslebens, des Daseinskampfes in unserer Schularbeit leiten zu lassen. Darum haben wir keinen Lehrplan und kein Lehrziel... . Aufgabe der Schule ist es, dem Kinde eine Stätte zu bieten, wo es ohne alle Rücksicht auf Zwecke, aber mit immer wachsender Verantwortung gegen die Menschen, unter denen es lebt, Kind sein, jung sein, froh und glücklich sein kann.“8


Freeschoolbewegung (USA)

Dewey (1859-1952):Pädagogik als Prozess ('Learning by doing'). Universitätsanbindung.

Dennison gründete (1964) First Street School in NY. Alternative Schule für Schulverweigerer und Unterschichtskinder. Interkulturell. Freiwillige Teilnahme.

Lernen als 'zielloser' Prozess (in der Retrospektive erklärbarer Sinn). Im Unterschied zu Montessori, Steiner und anderen Reformpädagog_innen wird bei Dennison (uns später in den Alternativschulen) der Entwicklungsbegriff der Evolutionstheorie angewendet: die Sinnhaftigkeit von Entwicklung lässt sich nur rückblickend erfassen/verstehen/beschreiben. Das bedeutet für die Pädagogik, dass sie Prozesse ermöglichen und zulassen muss, diese begleiten kann, aber keine Zielvorgabe hat. Im Gegensatz hierzu ist die Didaktik grundsätzlich an einer Zielsetzung (Lehrplan) ausgerichtet.


Antiautoritäre Erziehung

A. S. Neill: Anarchistische Pädagogik durch: Antiautoritär + Schulgemeinschaft (+ Psychoanalyse).

Konsequent: Werdet, was ihr wollt – politisch absichtslose Pädagogik. Theoretisch: Emanzipation von der Emanzipation

Summerhill als Schulprojekt besteht bis heute (in England).


Entschulungsdiskurs

Ivan Illich: Institutionenkritik als Ausgangspunkt:

[...] daß die Institutionalisierung von Werten unweigerlich zu Umweltverschmutzung, sozialer Polarisierung und psychologischer Impotenz führt: drei Dimensionen eines Ablaufs von weltweitem Verfall und modernisiertem Elend.“ Illich 1973; S. 17


Soziale (Un)Gerechtigkeit:

Deshalb wird der ärmere Schüler durchweg zurückbleiben, solange er für sein Wissen oder für sein Weiterkommen auf die Schule angewiesen ist. Die Armen brauchen Mittel, damit sie lernen können, nicht damit ihnen die Behandlung ihrer angeblich unverhältnismäßig großen Unvollkommenheit attestiert wird.“ Illich 1973; S. 22


Emanzipation (individuell, sozial) durch gleiche Bildung für alle, eigenverantwortlich und entstaatlicht.


Alternativschulbewegung

Besteht seit 40 Jahren in der BRD, zentrale konzeptionelle Prinzipien sind: Selbstregulation, Selbstbestimmtes Lernen, repressionsfreie Erziehung, (radikal)demokratische Selbstorganisation.


Aktuelle Tendenz: Zurückstellung der radikalen Inhalte zugunsten von Wachstum der Bewegung und Harmonie innerhalb des Bundesverbandes.


Rojava / Chiapas

Emanzipatorische Gesellschaftsmodelle (sozialistisch-anarchistisch), entwickeln 'eigene' Formen von Schule, unabhängig von globale Ökonomie, entstehen am Rande der reichen Gebiete (Nordamerika, Europa).

Konkret werdende Utopien, autonome Gebiete.


Ausblick

Ausgangslage unter kapitalistischen Bedingungen kaum verändert:

Armut, Umweltzerstörung, undemokratische Herrschaft, Imperialismus/Kolonialismus, usw..


Anarchistische, libertäre, sozialistische, kommunistische usw. Utopien und Konzepte sind wenig bekannt, werden selten in Schulen konkret.


Verbindung von grundsätzlicher, radikaler Kritik am bestehenden System mit lebenswerter Utopie kann Teil der Veränderung sein (gerade auch in Schulen) sein. Nichtsdestotrotz steht die Frage im Raum, ob es etwas Richtiges im Falschen gibt.


Warum leben wir nicht, wo wir doch wissen,

dass wir nur ein einziges mal da sind,

nur ein einziges und unwiederholbares Mal,

auf dieser unsagbar herrlichen Welt!“

Max Frisch



1Die autonome Universität in Athen ist eine selbstorganisierte Form des Studiums. Sie findet in der Academia Platanus statt und entspricht in ihrer freien Form dem, was dem griechischen Verb agorain entspricht: sich 'wandelnd austauschen'.

2Schuhmann in: Klemm u.a. (Hrsg.) 2013; S.11f

3Schuhmann in: Klemm u.a. (Hrsg.) 2013; S.13

4Schuhmann in: Klemm u.a. (Hrsg.) 2013; S.15

5Owen 1968; S.263 zitiert in: Klemm u.a. (Hrsg.) 2013; S.16

6Robin 1869 in Klemm u.a. (Hrsg.) 2013; S.23

7Vgl. Grunder in: Klemm u.a. (Hrsg.) 2013; S.23

8 Zitiert in: Schmid 1973; S. 44