McGuiver und die neue Schule

(Sassnitz, Februar 2015)


Die Zeichen der Zeit

 

 

'Durch Anpassung zum Erfolg' scheint das Credo unserer Zeit. Wer die gesellschaftlich erwarteten Zeichen (Sprache, Gestik, Kleidung etc.) beherrscht, der punktet. Bei der Einschulung, beim Bewerbungsgespräch, bei der Partner_innensuche via Internet. Hinter den 'Zeichen unserer Zeit' stehen die dominanten Werte der Gegenwart: Leistungs- und Anpassungsbereitschaft, Selbstkontrolle, Effektivität und Konsumfreudigkeit. Die ökonomische Ausrichtung unseres gesamten Daseins reduziert die Zeichen auf ein notwendiges Minimum. Differenzierungs- und Interpretationsleistungen im Sinne einer Vielfalt von Möglichkeiten passen nicht in eine zunehmend präsidial gesteuerte, kapitalistische Verwaltung.

 

„Auch viele Schulformen unterrichten heute eine solche geführte Verengung des Umgangs mit Zeichen. Der Ablauf, ein Parcours aus Lücken, bildete die pädagogische Weiterführung der Gegenregister der Kontrolle. An dieser dressierten Stolperfalle finden Lego-Steine, die immer seltener dafür gedacht sind, sich zu selbst erfundenen Architekturen stecken zu lassen, sondern nach genauen Ablaufplänen zusammengefügt werden sollen, mit Lückentests und Computern zusammen. Was Lernen sein soll, implantiert die Koordinaten eines Netzwerks. Ein Verhalten, das Sprache als eine dauerhafte Neuerfindung von Zeichen begreift, wird abgewöhnt. Durch die geführte Wahrnehmung werden diejenigen, die sich an die gegebenen Zeichenvorräte halten, optimaler anschlussfähig. Derartige Einübung der Kommunikationsfähigkeit formt das Gegenteil der vielbeschworenen Kreativität. Schöpferische Möglichkeiten werden im Gegenteil in Grenzen gehalten, um die Freisetzung unnötiger Komplexität zu verhindern. Ihre Vielfalt würde die Abläufe verlangsamen. Eine Belastung des Systems, der schon im frühesten Stadium vorgebeugt werden soll.

 

Kreativität im hergebrachten Sinne birgt ein Potenzial von Widerständen innerhalb der Steuerung, weshalb sie vom semantischen Management umgedeutet wurde und in ihrem jetzigen, mit dem Industriellen verbundenen Verständnis eines produktiven Umgangs mit den Apparaten vor allem der Überproduktion dient: Kauf dir ein Gerät, um dich kreativ zu verwirklichen. Das Ergebnis des verdrehten Konzepts der Massenkreativität sind meist Wiederholungen, deren Muster im Zeichenvorrat schon reichlich vorhanden sind und sich ständig, leicht verändert, reproduzieren. Nicht selten ist es einfach leerlaufender Sondermüll, der keinen Gedanken an die menschlichen Möglichkeiten verschwendet und allein dem Systemerhalt dient.“1

 

Die Auswirkungen dieses leerlaufenden Sondermülls kann man tagtäglich online bestaunen. All das dient der Festigung von Herrschaft. Eine sich selbst als wirtschaftliche oder auch politische Elite bezeichnende Kaste, die sich vornehmlich über ihr möglichst hohes Einkommen bei möglichst geringer Abgabe von Steuern definiert, stabilisiert sich selbst und die gesamte Klassengesellschaft. Zeichen sind hier ein Werkzeug. Selbstinszenierung und Arroganz die Methoden. Zur Verfügung steht ihnen ein Haufen organisierter Macht – manche nennen es Staat.

 

Da dieses Konstrukt nur unter der Bedingung der zunehmenden sozialen Ungleichheit weiter bestehen kann und die 'Elite' auch untereinander um den persönlichen Vorteil konkurriert, ist es ein äußerst prekäres Gebilde. Bisher konnte in den 'reichen' Ländern der Eindruck erweckt werden, dass es sich um eine stabile gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation handeln würde. Mit der vorgetäuschten Sozialdemokratie gibt es eine Scheinoption, etwas mehr in Richtung sozialer Marktwirtschaft tun zu können. Durch den massenhaften Import von Produkten, die unter den menschenunwürdigsten Bedingungen hergestellt werden, wird selbst der 'Unterschicht' eine Konsumoption eingeräumt, die für Ruhe sorgt. Der Blick auf die ökologische und humane Weltlage zeigt: es fehlt nicht viel zum Kollaps. Die vorgegaukelte Sicherheit ist brüchiger, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag.

 

 

Was vor uns liegt...

 

 

...weiß niemand. Nicht einmal das Wetter kann für mehrere Wochen zuverlässig vorhergesagt werden. Otto Herz argumentiert, dass die zurückliegenden hundert Jahre voller Gefahren und Umbrüche waren.2 Kaiserreich, 1. Weltkrieg, Weimarer Republik, Weltwirtschaftskrise, Faschismus, 2. Weltkrieg, der kalte Krieg, Zusammenbruch des Ostblocks, Wiedervereinigung Deutschlands, etc.. Warum sollten die kommenden hundert Jahre weniger heftig verlaufen? Es wäre sicher wünschenswert, wenn Kriege und Diktaturen ein Auslaufmodell wären und die weltweite Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen ein Ende hätte. Wenn der Klimawandel abgefedert werden könnte und alle Gesellschaften zu einer ökologischen Lebens- und Wirtschaftsweise finden würden. Was uns und unseren Kindern bevor steht sieht vermutlich anders aus. Die nächste Diktatur (Weißrussland) ist wenige Autostunden entfernt. Die Ukraine droht zu einem 'failling state' zu werden. Im nahen Osten eskaliert die Gewalt und Libyen ist im Bürgerkrieg versunken, um nur einige Krisenherde zu benennen. Und es sieht nicht so aus, als ob sich in einem der wirtschaftlich entwickelten Länder eine soziale Bewegung durchsetzen könnte, die für eine demokratische und gerechte Weltordnung eintreten würde. Die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte werden nicht weniger und nicht leichter. Bedenkt man nur die ungelöste Entsorgung des verstrahlten Mülls aus der Atomwirtschaft. Es war ein großer Fehler, AKWs zu betreiben ohne ein Konzept zur Müllvermeidung zu haben. Bekannt war dieses Problem von Anfang an, aber Vernunft ist nicht immer der ausschlaggebende Faktor, wenn die politisch-unternehmerische Kaste Entscheidungen fällt. Hinzu kommen all die Herausforderungen, von denen wir heute noch keine Vorstellung haben.

 

 

Black Out

 

 

In dem Buch 'Black Out' von Marc Elsberg wird beschrieben, wie in weiten Teilen Europas der Strom ausfällt. Durch die Verknüpfung von durchaus möglichen Geschehnissen mit einem Erzählstil, der an einen guten skandinavischen Krimi erinnert, schaffte es das Buch auf die Bestsellerlisten. Atomkraftwerke stehen vor der Kernschmelze (weil die Kühlung bei Stromausfall durch Generatoren nur ungenügend funktioniert), Geldautomaten funktionieren nicht mehr, Lebensmittel werden knapp, Toiletten haben keine Wasserspülung mehr und die Situation in den Städten eskaliert zunehmend...

 

Was muss ein Mensch können, um in solchen Szenarien nicht unter zu gehen? Man muss in der Lage sein, Prioritäten zu setzen. Grundkenntnisse in Physik und Chemie sind vorteilhaft, vielleicht auch Fähigkeiten im Bereich Selbstverteidigung. Entscheidungen müssen getroffen werden. In der Stadt bleiben oder diese verlassen? Am ehesten werden die Städte versorgt werden, soweit das überhaupt möglich ist. Oder lieber raus aus einer unkontrollierbaren Stadt in der Menschen Hunger bekommen? Solidarität organisieren? Komposttoiletten in die Hinterhöfe bauen? Wo steht die nächste Notpumpe (in Berlin hat jeder Kiez im Westteil der Stadt seine öffentliche Schlegelpumpe zur Notversorgung, wohl ein Erbe aus dem kalten Krieg).

 

Kompetenzen wie: Gesamtlagen einschätzen können, Prioritäten setzen, auf neue Entwicklungen reagieren können, unkonventionelle Lösungen finden, sich mit den richtigen Menschen verbünden, gemeinsame Strategien entwickeln (Kommunikation, Entscheidungen in Gruppen treffen, Arbeitsteilung) und zuletzt: den Zeitpunkt erkennen, wann alle Bemühungen gescheitert sind. Die Fähigkeit zu improvisieren erweitert sich, wenn Improvisation auf Wissen und Erfahrungen aufbauen kann. Viele Werkzeuge lassen sich selbst herstellen, wenn man Funktionsweisen und Materialkenntnisse miteinander verknüpfen kann.

 

 

Mcguivern

 

 

Das eine mögliche Antwort auf die Frage, was gelernt werden sollte, in einer Fernsehserie aus dem letzten Jahrhundert liegt, ist gewöhnungsbedürftig. In der durchaus amerikanischen Serie Mcguiver steht der Held der Geschichte in jeder Folge vor neuen, nicht vorhersehbaren Herausforderungen. Mal muss er (damals beherrschte der kalte Krieg auch die westlichen Vorabendserien) einen gefangenen US-Bürger aus einem feindlichen Land befreien, mal war ein alter Freund unschuldig in die Hände von Verbrechern geraten, mal brauchte eine (zumeist blondhaarige) Frau seine Hilfe. Die transportierten Stereotypen der Serie sind erbärmlich. Ästhetisch ist das ganze noch viel schlimmer: Waren die 1980er Jahre modisch eine Zumutung sondersgleichen.

 

Interessant sind die Kompetenzen, über die Mcguiver verfügt. Seine Grundkenntnisse aus den Bereichen Chemie, Physik, Linguistik, Informatik usw. sind flexibel und praktisch anwendbar. Es gelingt ihm auch, aus gefundenen oder umfunktionierten Dingen Werkzeuge herzustellen. Sein Schweizer Taschenmesser ist oft seine einzige Ausstattung. Es lohnt sich, unter Ausblendung von modischen und emanzipatorischen Aspekten, ein paar Folgen anzuschauen. Mcguivers große Stärke ist die Fähigkeit zu improvisieren. Er verschafft sich einen Überblick, improvisiert einen Plan (von dem er durchaus situationsbedingt abweichen kann) und wendet sein (theoretisches) Wissen an. Diese Handlungsfähigkeit in Krisensituationen ist es, die kommende Generationen von Menschen vermutlich benötigen werden. Mcguiver sieht in einem Metallrohr einen möglichen Hebel, eine mögliche Hülle für eine Sprengladung, ein Rohr zum Umleiten von Flüssigkeiten, eine Waffe zum zuschlagen, eine Klemme um Türen zu versperren, einen Schnorchel und, und, und... . Was ein Rohr sein kann, hängt von der Fragestellung ab, mit der man es betrachtet. Eine feste Definition taugt nicht viel.

 

 

Survival Schools

 

 

Unter der Bezeichnung Survival Schools gibt es Schulen für Überlebenstraining. In den 1970er Jahren organisierten die Hopi in den Reservaten eigene Schulen, die sie ebenfalls so nannten. Lassen wir die pfadfinderische Dimension des Survival Bereiches mal beiseite und erinnern uns an Mcguivers Fähigkeiten, dann ergeben sich daraus durchaus 'Unterrichtskonzepte'.

 

Eine inszenierte Lernsituation würde dann eine Fragestellung (Zielvorgabe) beinhalten. Um dieses Ziel zu erreichen ständen verschiedene Materialien / Medien zur Verfügung. Werkzeuge wären nur zum Teil vorhanden. Idealer Weise wäre in der Nachbarschaft ein Schrottplatz zugänglich. Um den Anspruch auf die Entfaltung von sozialem Verhalten zu integrieren, gäbe es fast ausschließlich Gruppenarbeiten.

 

Das konstruierte Ergebnis für die betreffende Fragestellung würde in einer größeren Gruppe vorgestellt und kritisch hinterfragt. Anschließend müsste für die selbe Fragestellung ein anderer Lösungsweg gefunden werden. Das würde sicher stellen, dass verschiedene Möglichkeiten ausprobiert werden. Die Folge wäre, dass die Vor- und Nachteile der verschiedenen Lösungsoptionen erfahrbar werden.

 

Fachbezogener Unterricht würde immer mit seinen möglichen Anwendungsoptionen verknüpft werden. Für die naturwissenschaftlichen Bereiche ist dies leicht vorstellbar. Für Fremdsprachen bedeutet das zum Beispiel, dass es immer auch einen Bezug zur Alltagskommunikation geben sollte. Es kann durchaus vorteilhaft sein, wenn ich an der Aussprache erkennen kann, woher ein englischsprachiger Mensch kommt. Aus Australien, Liverpool oder aus Alaska? Auf französisch nach dem Weg fragen zu können wäre bedeutungsvoller, als grammatikalische Regeln.

 

Für ein Fach wie Mathematik ergäben sich zwei zentrale Ansprüche. Zum einen würden alltagsrelevante Bezüge wesentlich werden. Die Höhe von Bäumen oder Gebäuden zu bestimmen, ohne hochklettern zu müssen, würde Mcguiver bestimmt vorteilhaft finden. Zum zweiten ginge es auch hier darum, mehrere Wege zum Ziel zu finden. Dass im mathematischen Verständnis der kürzeste Weg der sinnvollste ist, sollte nicht verhindern, dass vielfältige Lösungswege entdeckt werden können. Interessantes Material bieten zum Beispiel die verschiedenen historischen und regionalen Rechenhilfen. In China sahen sie anders aus als die Zahlentische im europäischen Mittelalter.

 

Im Deutschunterricht könnte es um die verschiedenen Möglichkeiten gehen, mit denen wir etwas ausdrücken können. Sachlich, in Bildern, poetisch, akademisch usw. wären Sprachoptionen. Begriffe könnten neu definiert oder gar neue Wörter erfunden bzw. konstruiert werden.

 

Einmal angefangen ergibt das Grundprinzip des Mcguiverns Orientierung für eine Neuausrichtung von Lernorten. Die Ergebnisse wären im Vorfeld nicht definierbar. Die Fragestellungen könnten durchaus in Kooperation mit den verschiedenen Arbeitgebern erarbeitet werden. Dachdecker_innen, Informatiker_innen oder Jurist_innen könnten die für sie wichtigen Herausforderungen exemplarisch formulieren und in Aufgaben / Herausforderungen münden lassen. Schließlich ist kein Dach wie das andere und jeder Gerichtsprozess verläuft anders.

 

Neben der Anschlussfähigkeit an die Arbeitswelt ist zu vermuten, dass ein solches Konzept von Lernsituationen eine hohe Aktivität bei den Teilnehmenden bewirkt.

 

Lehrer_in sein bedürfte einer Neuausrichtung. Es ginge neben der Vermittlung von Grundlagen um die Entwicklung von Unterrichtsformen, die das Mcguivern fördern würden.

 

 

Mit dem Baumarktraumschiff in den Weltall

 

 

„Das Fluggerät der Dänen besteht fast komplett aus Teilen, die jeder Baumarkt auf Lager hat: Stahlplatten, Schrauben, Plastikfolien. Und nahezu alle Komponenten, die für eine Raummission benötigt werden, sind Eigenkonstruktionen: Fallschirme und Hitzeschilde, Astronautensitze und Raketendüsen.“3 Es gibt sie: Die echten Mcguivers! Und sie werden fliegen, bis zum Mond. „Es gibt Menschen, die sehen überall nur Hindernisse. Und es gibt Menschen, die entdecken in allem neue Chancen. Wie die beiden dänischen Amateurastronauten. Sie sind getrieben von der Idee, scheinbar Unmögliches möglich zu machen: Weil kein Fallschirmhersteller bereit ist, ihnen einen Bremsschirm zu bauen – wohl aus Angst vor Fehlschlägen –, schneidern sie ihr eigenes Tuch. Und sie gewinnen einen befreundeten Fallschirmspringer für einen Test. Er landet sicher.

 

Im Hitzeschild verbauen sie Korkplatten aus einem Teppichladen. Das Material müsste einem Suborbitalflug standhalten, haben die Weltraum-Enthusiasten ausgerechnet. Ob das stimmt, muss ein Probeflug erweisen. „Drei Viertel unserer Zeit verbringen wir mit Tests“, sagt Madsen.“4

 

Das, was nach dem konsequenten Ermöglichen des Mcguiverns von den Schulen übrig bliebe, wäre ein großer Raum zum Experimentieren in Verbindung mit fachlicher/theoretischer Unterweisung, die sich an den Anwendungsmöglichkeiten messen lassen müsste.

 

Und die Schulglocke würde nur am Anfang des Tages einmal 'läuten': Mit der Titelmelodie einer Serie aus vergangener Zeit...

 

von Matthias Hofmann

 

1H.-C. Dany: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft. Hamburg 2014; S.33/34

 

2In Hofmann 2015.

 

3Die Wirtschaftswoche vom 10.02.2013

 

4Die Wirtschaftswoche vom 10.02.2013