Pädagog_innengen

 

Berlin, 30.10.2014

 

Es entsteht ein Bild / ein „Allgemeinwissen“ darüber, dass einiges oder vieles oder alles an uns Menschen genetisch bedingt sei. Ein naturwissenschaftlich erkennbarer Bauplan läge unserem körperlichen und psychologischem Sein zu Grunde. Tut er das? Ist dieser berechenbar? Übertragen wird die Vorstellung von einer genetisch bedingten Ursache für Verhalten auf alle Lebensbereiche. Schulische Erfolge, unangepasstes Verhalten, stabile Beziehungen, Liebesfähigkeit, Geduld, Interessen, etc. etc.. In der Zeitung1 konnte man lesen, dass es eine auffällige Genmutation bei Verbrechern gibt.

 

Eine Konsequenz aus dieser Behauptung könnte sein, dass jede Form der Pädagogik nur das Verwalten bestimmter genetischer Bedingungen durch geschultes Personal ist, welches vermutlich über ein besonderes Pädagog_innengen verfügen müsste. Das ließe sich ja vorgeburtlich erheben und schon von Anfang an in die Berufswegeplanung integrieren. Auf dem Bändchen im Krankenhaus würden den Kindern dann neben einem Namen (den die Eltern gewählt haben) und dem Geschlecht (derzeit zwei Optionen, vom Arzt/Ärztin bestimmt) weitere Erkenntnisse mitgegeben: Lebenserwartung, Anfälligkeit für Suchtverhalten, wahrscheinlicher Schulabschluss, berechnete Körpergröße und statistische Wahrscheinlichkeit für Sehschwächen.

 

Pädagogik und zwischenmenschliches Sein im Allgemeinen könnte mit diesem Wissen ganz anders fördern und regulieren! Da würden die Eltern eines postnatal ermittelten wahrscheinlichen Straftäters viel besser beraten werden können. Kein Tatort gucken während der Schwangerschaft, Fortbildungskurse („Hilfe, mein Embryo wird einmal kriminell!“), Mankell verschwindet aus dem Bücherregal, „Die drei Räuber“ taugen nicht als Bilderbuch. Das würde neue Märkte eröffnen, denn wer möchte nicht alles tun, damit sein Kind nicht (oder weniger wahrscheinlich) kriminell wird?!

 

Eine interessante Frage ist an dieser Stelle: Was ist kriminelles Verhalten überhaupt? Die einen verstoßen gegen die Gesetze, schaden ihren Nachbarn oder zerstören etwas, in dem sie zum Beispiel einen S-Bahnzug bemalen. Bei solchem Verhalten gibt es einen relativen gesellschaftlichen Konsens, von kriminell zu sprechen. Andere, die wir mehrheitlich derzeit nicht als kriminell bezeichnen würden, bieten uns als Geldanleihe bei der Sparkasse renditeträchtige Anlagemöglichkeiten an, inklusive Umweltzerstörung, Kinderarbeit und Waffenproduktion. Das ist aber nicht kriminell. Zumindest nach der Definition der Justiz in der BRD und nach dem Verständnis meiner Kundenberaterin in der Sparkasse. Es stellt sich die Frage: Welche Idee von kriminellem Verhalten haben diejenigen, die nach genetischen Ursachen forschen?

 

Eine weitere Frage die sich aufdrängt ist jene nach der Relation. Wenn es eine genetische Präferenz zu einem bestimmten Verhalten gebe, dann besteht offensichtlich kein zwangsläufiger Mechanismus, dass dieses Verhalten eintritt. Es muss folglich noch weitere Faktoren geben. Die Sozialisation zum Beispiel. In deren Rahmen die emotionale Bindung an die Eltern, die Bereitschaft von Erwachsenen Verantwortung zu übernehmen, die Freundschaften, die Erzieher_innen und Lehrer_innen, die ökonomischen Bedingungen im Elternhaus, religiöse oder andere ideologische Wertesysteme, die Ernährung, der Umgang mit dem Konsum, Bewegung, usw. usw. wirken. In welchem Verhältnis steht eine wie auch immer definierte genetische Präferenz zu all diesen Faktoren, die alle wiederum in einer Wechselbeziehung zueinander stehen und sich ständig verändern? Ein Straftäter verliebt sich in eine reiche Katholikin? Das könnte alles verändern.

 

Gegen die genetische Präferenz vom kriminellem Verhalten könnte man Australien und andere ehemalige Strafkolonien ins Feld führen. Wenn kriminelles Verhalten signifikant vererbbar wäre, dann ist nicht zu erklären, warum Australien eine durchschnittliche Kriminalitätsrate hat. Es widerspräche auch dem Umstand, dass die Nachfahren der Ureinwohner in Australien statistisch gesehen häufiger Straftaten begehen, als zugewanderte Nachfahren von verurteilten Kriminellen. Vor der Ankunft der europäischen Sträflinge scheint es kein besonderes Kriminalitätsproblem im Genpol der Aborigines gegeben zu haben.2 Der Faktor Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung ist meines Erachtens nicht zu unterschätzen. Das gilt mit Sicherheit auch für andere menschliche Eigenschaften wie Konfliktfähigkeit, Beziehungsfähigkeit, Geduld, Lebensfreude usw..

 

Wenn im Zusammenhang mit menschlichem Verhalten und den dahinter liegenden Potentialen genetische Präferenzen untersucht und benannt werden, mag man dafür wissenschaftliche Auszeichnungen bekommen. Die Erkenntnisse über unsere jeweiligen biografischen Entwicklungen (in ihrer Unberechenbarkeit!) bereichert das reichlich wenig. Entscheidend wäre, in welcher Relation eine bestimmte Erkenntnis der Genanalyse zum gesamten sozialisierenden Einflussfeld steht. Und ob das für mehr als einen Menschen standardisiert 'berechnet' werden kann.

 

Falsch finde ich die Entwicklung, dass sich scheinbare genetische Determinationen des Menschen als „Allgemeinwissen“ breit machen und der Bereich, den wir selbst gestalten und verantworten können und müssen, aus dem Fokus grät: Die Sozialisation. Oder konkreter: Unser zwischenmenschliches Sein. In jeder noch so kleinen Begegnung, in jeder Geste und in jeder großen Liebe.

 

Matthias Hofmann

 

1Berliner Zeitung vom 30.10.2014; Seite 12

2Vgl.: G. Forster: Reise um die Welt. Verschiedene Ausgaben.